Entwerfen als Kulturtechnik

Entwerfen als Kulturtechnik

Warum uns die digitale Transformation die Chance eröffnet, den Mensch wieder in den Mittelpunkt unserer Arbeit zu stellen

Gebäude und Städte, die wir heute planen, sind Prognosen, wie wir in Zukunft leben werden. Damit Prognosen wie unsere Wetterberichte nicht notwendigerweise fast immer falsch liegen müssen, sollten wir uns heute mit den Veränderungen der Zukunft auseinandersetzen, Trends im Sinne von Möglichkeitsräumen und Tiefenströmungen des Wandels begreifen und auf ihrer Basis die Zukunft gestalten.

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Doch unsere bekannte Welt ist in rasantem Umbruch. Ökologische, ökonomische, soziale und kulturelle Veränderungen bestimmen unseren Alltag. Klimawandel, Ressourcenknappheit, neue Mobilitätsformen bis hin zur digitalen Transformation stellen komplexe Fragen im Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichem Wandel und technischen Entwicklungen, die innerhalb einzelner Fachdisziplinen nicht mehr zu beantworten sind. Die digitale Transformation lässt ganze Berufsfelder verschwinden, aber auch neue entstehen. Der größte Einfluss der Digitalisierung ist jedoch nicht nur der, wie er unsere Wirtschaft verändert, wie neue Jobs entstehen und alte verschwinden, es ist auch nicht nur die Erfordernis neuer Qualifikationen und Führungsqualitäten, auch nicht der reine Effizienzgewinn bei Serie oder Individualisierung. Der größte Einfluss der Digitalisierung ist der auf die Gesellschaft im Sinne einer Demokratisierung von Information und Kommunikation, unserer sozialen Partizipation und der Rolle der Medien. Und last but not least neuer Anforderungen wie Offenheit, Transparenz und Vernetzung. So führt die digitale Transformation zu einer kulturellen Transformation. 

Hotels stellen seit je her eine kristallisierte Welt dar, sind Orte des Zeitgeistes und des Vordenkens und somit eine zugleich frühe und konzentrierte Darstellung von Trends. Als Soziotop auf Zeit werden hier heute schon Themen verhandelt, die unser Leben in Zukunft bestimmen werden. Zugleich bedeuten sie gestern wie heute auch immer einen Härtetest für neue Produkte und Technologien und wurden häufig so zum Inkubator von Innovationen.

Innovationen finden dabei stets im Spannungsfeld zwischen technologischen Entwicklungen und gesellschaftlichen Veränderungen statt, sind niemals rein technischer Natur, sondern führen stets zu ökologischen, ökonomischen, sozialen oder gar kulturellen Veränderungen.

So führt insbesondere die Digitalisierung auch im Bereich der Hotellerie zu neuen Geschäftsmodellen und neuen Wettbewerbern wie AirBnB, dem größten Betreiber im Übernachtungsgewerbe, der keine eigenen Häuser mehr besitzt. Kluge Hoteliers haben sich mit neuen Konzepten und einem Perspektivwechsel vom angebotenen Produkt auf den individuellen Gast diesen Herausforderungen gestellt. Den Gast nicht nur während seines Aufenthalts, sondern im Sinne einer ganzheitlichen Customer-Journey auch davor und danach in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung gestellt. Wo liegen seine individuellen Bedarfe, wo seine Wünsche? Wo die der Mitarbeiter? Der Mensch steht heute im Mittelpunkt erfolgreicher Hotelkonzepte – der Gast und der Mitarbeiter. Sie haben sich mit den Fragen der Zukunft auseinandergesetzt und versucht Antworten zu formulieren. Individualisierung beantworten sie mit einer Abwendung vom Massentourismus und einer Hinwendung zu Resonanztourismus und zur Adaption an den individuellen Gast. Demographischen Wandel mit neuen Angeboten für neue granulierte parallele Zielgruppen, aktive ältere Generationen und neue Kulturen mit neuen Anforderungen, insbesondere in den Bereichen Gesundheit und Ernährung. Globalisierung mit Regionalität und der Schaffung von Orten an Orten. Digitale Technologien schaffen Mehrwerte für Gast und Mitarbeiter. Künstliche Intelligenzen vernetzen und erleichtern interne Prozesse und generieren neue Services für den Gast. Intelligente Gebäude- und Raumsysteme auf der Basis von Sensorik und dem Internet der Dinge connecten sich mit Wearables oder den smart Devices des Gastes und ermöglichen ein  individualisiertes Raumklima – von Licht, Wärme, Klima, Musik bis hin zum Duft. Hologramm-Services und OLEDs ersetzen bekannte Devices wie das TV-Gerät. Ob Keyless Sicherheitssysteme, digitaler Check-in und Check-out, Sprach-, Gesten- und Mimiksteuerung, die zweifelsohne für Gast und Mitarbeiter Mehrwerte schaffen, so stellt sich dennoch die Frage: Wieviel Digitalisierung verträgt der Gast? Wie viel Persönlichkeit braucht er? Wie viel echte Interaktion, echte Services und echte Begegnung mit Personal und Community? Das Ausbalancieren zwischen digital und analog, on und off stellt eine der größten Herausforderungen für das Hotel von heute und morgen dar. Je mehr Individualisierung möglich wird, desto mehr entsteht die Sehnsucht nach echter Begegnung. Der Mix aus individualisierter Datenauswertung und menschlicher Empathie für das Wohlbefinden des Gastes zeigt sich auch im realen Raum und einer Öffnung und Transparenz der klassischen Lounge und Lobby als Räume für eine echte Begegnung des Soziotops in sich, aber insbesondere auch mit den Locals. Die Lounge wird zum „Collaborative Living Space“, ergänzt um neue Funktionen und Services wie Co-Working, Barbershops, Gaming-Areas, 24/7-Markets und Gemeinschaftsküchen. Ein echter Ort für echte Begegnungen mit echten Menschen in echten Materialien. Unsere digitale Zukunft braucht also doch auch analoge Herkunft.

Zentrale Aufgabe der Architektur ist seit je her die Beziehung zwischen Mensch und Raum, wenn man auch den Eindruck erhält, diese wäre im Laufe der Architekturgeschichte ab und an in Vergessenheit geraten. Heute ist Sir Winston Chruchills Aussage „Erst formen wir unsere Räume, dann formen sie uns.“ durch Forschungsergebnisse aus Hirnforschung und Neuropsychologie belegbar. Gleichzeitig waren Räume und Städte schon immer auch soziale Tatsachen, die sich räumlich formten und somit Ausdruck der Gesellschaft ihrer Zeit. Entwerfen im Sinne einer Kulturtechnik und nicht im Sinne eines rein künstlerischen Schaffensprozesses findet daher stets im Spannungsfeld zwischen technischen Entwicklungen und gesellschaftlichem Wandel statt und ist so Spiegel ihrer Zeit und abhängig von den jeweiligen kulturellen Aprioris. Die Architektur wird sich somit dem beschriebenen Umbruch nicht widersetzen können. Was können wir von den Vordenkern im Hotel lernen?

Die Arbeitsweise der Zukunft ist geprägt durch Interdisziplinarität und ein Arbeiten im Netzwerk. Dies ist uns Architekten seit jeher bekannt. Aber werden wir nach wie vor der Dirigent dieses Netzwerks sein oder eher die zweite Geige spielen? Welche Darstellungsmethoden brauchen wir in diesem Netzwerk auch im Sinne differenzierter Kommunikationsmittel im Team selbst aber auch mit der Partizipation fordernden Gesellschaft? Der singulare Mensch als Bauherr fordert künftig von Anfang an mittels AR/VR in den Prozess integriert zu sein, stellt dann aber auch Produktkriterien an unsere Architekturen. Können wir damit wirklich umgehen oder sollten wir nicht jetzt die Chance nutzen, von den Gestaltern und ihren Denkmodellen und Methoden zu lernen? 

Digitalisierung im Bauwesen fokussiert heute noch immer auf die Effizienzsteigerung der eigenen Prozesse und nicht auf die Bedarfe des Menschen. Doch die Menschen entwickeln sich im Zuge der digitalen Transformation von Konsumenten zu Prosumenten. Verlieren wir den Menschen und seine individuellen Bedarfe noch weiter aus den Augen, laufen wir Gefahr als Architekten die normative Kraft als Raumproblemlöser zu verlieren. Digitale Modelle und ein Methodentransfer aus der Gestaltung bieten jetzt die Chance, den Menschen und damit den Grund wofür wir planen und bauen, wieder in den Mittelpunkt der Architektur zu stellen.

Kulturelle Haltungen beschleunigen oder verlangsamen Innovationen. Wir sehen dies am Verhältnis zum Roboter, der in Japan als Freund, in China als Kollege, in USA als Diener und bei uns noch immer als Feind betrachtet wird. Künstliche Intelligenz soll die dritte industrielle Revolution verursachen. Doch bis vor kurzem waren wir noch davon überzeugt, dass KI nur serielle Prozesse ersetzen, Algorithmen nur Muster erkennen können. Unseren zentralen Kreativprozess und unsere menschliche Empathie jedoch niemals beherrschen werden. Doch lehren uns erste Experimente aus dem Bereich der Bildenden Kunst bereits heute eines Besseren, zeigen sie jetzt schon Kreativpotentiale im Bereich KI. Denken wir die Entwicklungen weiter, bleibt uns die Empathie. Die Empathie im Sinne der Fähigkeit und Bereitschaft, Empfindungen, Emotionen, Gedanken und Motive einer anderen Person zu erkennen, zu verstehen und nachzuempfinden. Empathie im Sinne des Einfühlungsvermögens in den Menschen, den Bauherren, den Nutzer und die Gesamtgesellschaft. 

Digitalisierung und Künstliche Intelligenz bieten uns heute die Chance mittels unserer Empathie den Menschen im analogen wieder in den Mittelpunkt unserer Planungen zu stellen. Dies bedeutet aber auch für uns einen Perspektivwechsel und eine kulturelle Transformation unserer Arbeitsweise. Es bedeutet die Umkehrung der bekannten linearen Maßstabssprünge vom Großen ins Detail, sondern bereits den Beginn unserer Planungen im menschlichen Maßstab, im 1:1. Das sollten wir von den Vordenkern der Hotels und von den Gestaltern und ihren Methoden lernen. Mit dieser Empathie für den Menschen gelingt nicht nur die Positionierung als echter Treuhänder des Bauherrn, es entstehen Gebäude und Städte, die dann im Sinne von Prognosen nicht mehr falsch, sondern resilient und identitätsstiftend sein können, Architektur in echte Baukultur transformieren und so ihre Relevanz in der Gesellschaft steigern werden.

Veröffentlicht in Raumprobe Materialreport 2020

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