Vom Individualismus zur Gemeinschaft: „Wir müssen vernetzter denken und handeln“

Vom Individualismus zur Gemeinschaft: „Wir müssen vernetzter denken und handeln“

Wie werden wir in Zukunft leben? In welchen Räumen und an welchen Orten werden wir zu Hause sein? Meike Weber, Architektin und Verlagsleitung des renommierten Architekturfachverlages DETAIL, blickt im Interview mit Xella auf die Zukunft des Lebens und Bauens, auf Szenarien und Entwicklungsachsen von Bauprozessen und zukünftige Anforderungen an ihre Zunft. 

Wie kaum eine andere Disziplin bestimmt Architektur die Welt von morgen. Wie aber können sich Architekten und Planer zukünftigen Entwicklungen und Herausforderungen an das Leben und Bauen annähern?

Gebäude von heute sind Prognosen, wie wir morgen leben werden. Hier ist ein Zitat des Soziologen Georg Simmel passend: „Gebäude sind soziale Tatsachen, die sich räumlich formen.“ Denn zwischen Architektur und Gesellschaft besteht immer ein enger Zusammenhang. Das ist nicht nur beim Einzelgebäude ablesbar, sondern insbesondere bei Stadtstrukturen und öffentlichen Räumen. Wenn Gebäude und Stadträume wirklich nachhaltig geplant sein wollen, ist es für den Architekten unerlässlich und in seiner Verantwortung, sich mit den Veränderungen der Gesellschaft und den sozialen Tatsachen der Zukunft auseinanderzusetzen.

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Was ist mit den viel diskutierten Megatrends Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Mobilität, Demografischer Wandel und Urbanisierung? Inwiefern sind die von Bedeutung?

Die Auswirkungen der formulierten Trends auf das Bauen sind bereits existent, zum Teil sind dies keine Zukunftsszenarien mehr, sondern bereits Realität. In Europa ist der Wandel zur postindustriellen Wissens- und Kreativgesellschaft in vollem Gange. Mit den einhergehenden tief greifenden wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Veränderungen haben sich die Rahmenbedingungen für die Stadtentwicklung verändert. Es bestehen Anforderungen an Siedlungsstrukturen und an ein inspirierendes städtisches Umfeld, wie es frühere Industriegesellschaften nie kannten. Die formulierten Trends haben selbstverständlich hier ihre Auswirkungen, dürfen dabei aber meines Erachtens nicht isoliert betrachtet werden, sondern immer in Wechselwirkung zueinander. Ein Beispiel: Alle stürzen sich derzeit auf das Thema Stadt und Urbanisierung. Aber, bitteschön, was ist denn mit dem Land?

Ist denn das Land überhaupt noch relevant für uns? Zurück in die Stadt ist doch anscheinend der erstrebenswerte Lebensweg der modernen Gesellschaft.

Das Land scheint dabei vergessen zu werden. Dabei kommen ihm gerade Aufgaben zu, wie es sie früher schon einmal hatte – zu Zeiten, als die Städte entstanden sind. Das Land versorgt die Städte. Diese würden ohne das Land gar nicht funktionieren. Man denke an Ernährung, aber auch an alternative und regenerative Energien. Wo stehen denn die Solarfelder und Windanlagen? Doch nicht in der Stadt. Und wieso verzeichnet gerade der Wirtschaftszweig der Landwirtschaft wieder Wachstumsraten? Und damit meine ich nicht den Trend des Urban Gardening, der by the way auch eher Bedürfnisse nach Gemeinschaft befriedigt. Genau aus solchen übergreifenden Gesichtspunkten heraus haben wir vor fünf Jahren den Bereich „DETAIL research“ gegründet. Um alle Beteiligten des Bauens an einen Tisch zu holen. Es geht es nicht nur um Architekten – hier will ich die Forschung am Tisch haben, die Bauindustrie, aber auch weitere Wirtschaftsbereiche wie die Automobilindustrie, Energiebetreiber, Soziologen und insbesondere die Politik. Es bringt uns nicht weiter, wenn ein Architekt oder eine Fachzeitschrift vorgibt, in welche Richtung es geht. Wir müssen vernetzter denken und gemeinschaftlich arbeiten. Das ist für die Zukunft wichtig.

Was ist dann mit Projekten wie dem Londoner Wolkenkratzer „Shard“ von Renzo Piano? In einer Stadt wie London, die sich trotz Metropolendasein ihren Reihenhauscharakter bewahrt hat, ist da nicht ein solcher Bau das Gegenteil gemeinschaftlicher Stadtplanung?

Renzo Piano ist ein sehr renommierter Architekt aus einer Zeit der Individualarchitektur. Der Bilbao-Effekt, als positive Folge einer anderen Individualarchitektur hatte seine Berechtigung und bot Denk- und insbesondere Handlungsanstöße. Es wird diese für sich stehenden Bauten auch weiterhin geben, nicht zuletzt in der sogenannten „Corporate Architecture“. Aber ich habe den Eindruck, dass diese Art von Autoren-Architektur eher zum Einzelfall wird. Zahlreiche Beispiele belegen das. Es geht um den Kontext. Es geht nicht mehr um die grosse Geste, sondern um invasive Eingriffe, gerade wenn wir über ein Bauen im Bestand als Hauptaufgabe der Zukunft sprechen. Es geht um ein breiteres Denken – über das Einzelgebäude hinaus, über die eigene Disziplin hinaus. Funktioniert ein Bau in einem Stadtorganismus? Entsteht ein Zusammenspiel zwischen Gebäude und Freiraum? Immobilität und Mobilität stehen immer in Wechselwirkung zueinander. Was ist mit dem Thema Sharing, mit E-Mobilität? Wird es in Zukunft weniger Verkehr geben? Werden Parkflächen frei? Kann ich den gewonnenen Raum neu besetzen? Brauche ich mein E-Mobil als Energiespeicher? Wenn man es weiter denkt, greift plötzlich alles ineinander. Es entsteht ein anderes Verständnis von Architektur und Bauen. 

Das hört sich für mich als kleiner Erdenbürger angenehm konkret und fassbar an. So manche Zukunftsvision kann einem eher Angst machen – fernab von dem Realen und meinen konkreten Bedürfnissen.

Wie sagte unser Altkanzler Schmidt so schön: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“ Nein, aber die Themen Stadt und Urbanisierung sind wir nun lange genug in reinen Visionen angegangen. Jetzt müssen wir konkret werden. Architektur- und Stadtutopien gab es immer und wird es auch immer geben. Sie sind von Bedeutung Denkanstösse zu geben, stellen aber keine konkreten Handlungsanweisungen dar. Ansätze daraus können aber durchaus auch Realität werden, wenn es darum geht, komplett neue Städte auf der Südhalbkugel entstehen zu lassen, wo das wesentliche Bevölkerungswachstum auch in den Städten stattfindet. Hier bei uns geht es jedoch um invasive Maßnahmen, im Wesentlichen im Bestand. Nachhaltige Stadtentwicklung muss daher weit über die Aspekte der Ökologie und Ökonomie und einer gestalterischer Formgebung hinaus gedacht werden, um wirklich zukunftsfähige, lebenswerte Orte schaffen zu können. Hierfür wurde in den letzten Jahren ein Bewusstsein geschaffen. Jetzt sind konkrete Lösungsschritte erforderlich.

Aber wie kann der Architekt eine so umfassende Aufgabe einer gemeinschaftlichen, nachhaltigen Stadtmasterplanung leisten?

Gerade die Komplexität der Anforderungen birgt die Chance, der Architektur wieder zu einer anderen Positionierung zu verhelfen. Früher war der Baumeister eine angesehene Person. Dann gab er sukzessive Arbeitsbereiche ab – an den Spezialisten für Fassadenplanung, den Statiker, den Elektro- und den HLK-Planer, den Projektentwickler, nun kam noch der Energieberater hinzu. Wenn der Architekt wieder ganzheitlicher denkt, wenn  er sich seiner Kompetenz kreativ zu handeln bewusst ist, wenn er interdisziplinär arbeitet und sich nicht vor dem Bewusstsein verschließt, dass die Gesellschaft eine entscheidende Rolle für Stadtentwicklungsprozesse spielt – dann kann er wieder diese angemessene Position erlangen. Die Lehre reflektiert dies seit einiger Zeit wieder in veränderten Programmen. Nicht der Entwurf alleine ist schon Architektur. Nicht allein innovative Technologien und digitalisierte, effiziente Prozesse bieten Lösungen für unsere Zukunft. Nicht die Stadt ohne das Land kann die Wahl sein. Nicht nur das Bauen in die Vertikale schafft mehr Raum – abgesehen davon, dass wir uns hier in Europa dem Expansionsthema gar nicht mehr annehmen müssen, weil wir es nach sensibleren Möglichkeiten der Nachverdichtung in gefragten Städten mittel- und langfristig eher mit Schrumpfung denn mit Wachstum zu tun haben werden. Wo veröden Quartiere, weil sie überaltern? – müssen wir uns fragen. Wie können diese wieder in einen Stadtorganismus eingeflochten werden? Die Anforderungen der Zukunft sind vielfältig, die Antworten individuell. Das kann der Einzelne nicht leisten, das schafft nur die gemeinschaftliche Zusammenarbeit im Netzwerk. 

Veröffentlicht Xella Kundenmagazin 2014

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