Bavarität – Krisenbewältigung im baukulturellen Raum

Bavarität – Krisenbewältigung im baukulturellen Raum

Das aktuelle Buch des Architekturforschers und Urbanisten, Mark Kammerbauer, erschienen im Verlag Springer Spektrum, befasst sich mit der Architektur, dem Städtebau und der Stadtplanung im Freistaat Bayern aus interdisziplinärer, urbanistischer Sicht. Damit verbundene baukulturelle Partizipation kann zur Bewältigung von Krisen beitragen, wenn sowohl Akteure der Planung und Gestaltung als auch der Nutzung berücksichtigt werden. Ziel des Buches ist, den gebauten Raum Bayerns zu lesen und zu verstehen, ihn einer Kritik zu unterziehen, dabei die Erfolge nicht auszublenden, um Lösungen zu präsentieren und um schliesslich Raum für die Reflexion und das Imaginieren zu bauen.

Wenn Menschen die gebaute Umwelt lesen und verstehen, dann informiert das auch ihr Handeln, insbesondere, wenn sie partizipativ an Planung und Gestaltungsprozessen für die Errichtung des gebauten Raums beteiligt sind. Um diese Phänomene ihrem Kontext entsprechend zu fassen und zu deuten, schlägt das Buch den Begriff „Bavarität“ vor. Im Fall des Freistaats Bayern und seines ländlich-städtischen Kontinuums als Ergebnis historischer baulich-räumlicher Entwicklung, durch Tradition und Moderne konturiert, stellt Bavarität eine sozio-kulturelle Leistung dar, deren Ergebnis in der Partizipation aller Beteiligten gründet und nicht endet.

Wenn man Urbanität und Ruralität als zwei soziokulturelle Leistungen versteht, die städtische und ländliche Räume hervorzubringen vermögen, dann stellt sich die Frage ob es auch eine solche für den Kulturraum Bayern gibt – also eine Bavarität. Dabei spielen auch Aspekte wie Konservatismus und Katholizismus, Gesellschafts- und Staatsverständnis eine Rolle. Es geht also um die Wechselwirkung zwischen Architektur und Gesellschaft, daraus hervorgehend auch um die Bedeutung der Partizipation derselben beim Entstehungsprozess – eine bedeutsame Thematik, die uns beide verbindet.

Auf 130 dicht gepackten Seiten, immer wieder durch häufig selbst erstellte Fotos unterbrochen und eine Vielzahl an Fussnoten ergänzt, gibt uns der Wissenschaftler in charmant verständlicher Sprache Einblicke in die Hintergründe seiner These: Architektur, Baukultur und Partizipation sind in der Lage zur Bewältigung von Krisen beizutragen. Die Publikation ist eine Essaysammlung der vergangenen 5 Jahre für unterschiedliche Publikationen und Kunden und gliedert sich in 5 Themencluster.

Raum als Text – Hier geht es um die Lesbarkeit des Raums, von der Auseinandersetzung mit dem Werk von Franz Xaver Kroetz und seinen Handlungsorten in bayrischen Städten und Orten – ein Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne.

Raum als Krise – Zeigt anhand von Beispielen wie der Raumwahrnehmung während der Pandemie und Logistikhallen, wie Entkleidungen identitätsstiftender Orte und wenn sie auch nur temporär sind am Beispiel der U-Bahnhöfe Münchens, wie Erinnerungskultur bis hin zum Hochwasserschutz. Es erklärt Krisen als Brüche der Lesbarkeit einer Baukultur und endet mit einem Lernen aus Krisen. 

Raum für Baukultur – Konturiert die Bedeutung der Bayerischen Architektenkammer und der Architektouren für den Diskurs der bayrischen Baukultur – Bayerische Baukultur gestern heute und in Zukunft – anhand einer Vielzahl an Bestpractices aus unterschiedlichen Jahrzehnten und einen Ausblick zu mehr Nachhaltigkeit und Resilienz.

Raum zum Wohnen – Stellt Partizipation als Erfolgsrezept nachhaltigen Bauens anhand zweier bayerischer Beispiele dar.

Raum für Visionen – Fokussiert die Angemessenheit, ob Theorie der Schälung, experimentelles Freiräumen oder Lernen von alten Meistern – eine treffende Gegenüberstellung von Sepp Ruf und Mies van der Rohe am Beispiel des Tucherparks.

Raum für Reflexion und Imaginieren bedeutet schliesslich einen direkten Appell an alle Planenden, in zukünftigen Szenarien zu denken, die zwar die Herkunft brauchen, aber nicht mit Lösungen der Vergangenheit möglich sind.

Bei allem geht es um Angemessenheit – im gestern, heute und in Zukunft – insbesondere für Nutzer, aber auch im gesellschaftlichen und räumlichen Kontext, die im architekturtheoretischen Diskurs lange keine Rolle spielten. Danke dafür, lieber Mark. Dieser Punkt eint uns sehr.

Wenn es also eine Bavarität gibt, so verändert sich diese mit den Herausforderungen der Zukunft, aber Zukunft braucht auch Herkunft. Und ja, sie kann zur Bewältigung von Krisen beitragen.

Eine kleine Ergänzung sei mir zum Ende dieser Rezension erlaubt, denn aus eigenen Studien vermisse ich doch den einen oder anderen Aspekt ein wenig. So greift der Blick in die Vergangenheit bis 1918 meines Erachtens ein wenig zu kurz. Ein Rückblick auf Jahrhunderte zuvor, auf das autochthone Bauen, das Regionale, die Materialcodes und die Color Codes hätten noch interessante Aspekte zur Lesbarkeit der Bavarität beisteuern können.  Aber vielleicht gibt es ja bald ein Folgewerk, darüber würde ich mich freuen und gerne mal mit dir austauschen, lieber Mark.